«Damit in den Frauen Ruhe herrscht»

Die Pille für den Mann ist vorerst gescheitert. Wissenschaftlerin Lisa Malich über Verhütung und Männer, die mehr Verantwortung übernehmen sollten.

Gleiche Nebenwirkung wie die der Männer, trotzdem seit Jahren auf dem Markt: Die Pille.

Gleiche Nebenwirkung wie die der Männer, trotzdem seit Jahren auf dem Markt: Die Pille. Bild: Keystone

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Im Spiegel wurde kürzlich berichtet, dass eine Studie zur hormonellen Verhütung vom Mann abgebrochen wurde. Wieso denken Sie, müssen wir immer noch auf die sogenannte Pille für den Mann warten?
Da gibt es verschiedene Theorien und unterschiedliche Faktoren. Ein Grund ist, dass eine hormonelle Verhütung beim Mann physiologisch komplizierter ist als bei der Frau. Dafür muss die Spermienproduktion unterbrochen oder stark reduziert werden. Gleichzeitig sollte der Mann aber nicht für immer unfruchtbar sein. Das ist durchaus eine Herausforderung. Ausserdem gestaltet sich das Marketing für die Pille der Männer als schwieriger.

Inwiefern?
Bei der Pille der Frau konnte man leicht sagen, die Pille simuliere einen natürlichen Körperzustand. Nämlich den, dass der Körper schwanger ist. Das stimmt zwar nicht ganz, aber mit der Pille hat man zumindest einen ähnlichen Mechanismus wie in der Schwangerschaft. Die Erklärung der hormonell «vorgetäuschten Schwangerschaft» wurde im Marketing schon in den 60er-Jahren genutzt. Bei der Pille für den Mann fällt ein solch einfaches Erklärungsmodell weg. Bei gesunden Männern gibt es keinen vergleichbaren physiologischen Zustand wie den, welchen sie mit der Pille haben. Der Zustand wäre eher vergleichbar mit der Vorpubertät oder mit dem ganz hohen Alter. Damit wollen sich viele Männer natürlich nicht identifizieren. Trotzdem gab es tatsächlich schon ab den 70er-Jahren Bemühungen, eine Pille für den Mann zu nutzen.

Wie kam es dazu?
Verhütungsmittel wurden damals allgemein als wichtige Instrumente betrachtet, um die Weltbevölkerung zu regulieren. Ängste einer Überpopulation des Planeten gingen um. Unter diesem Aspekt, die Weltbevölkerung zu kontrollieren, war damals schon die Pille für die Frau propagiert worden. Im Zuge dieser Anstrengungen gab es dann auch die ersten Versuche, die Pille für die Männer zu schaffen. Das ging zunächst von den Regierungen von China und Indien aus und wurde dann von der WHO koordiniert. Schon in den 70er-Jahren wurde in Versuchen gezeigt, dass hormonelle Verhütung bei Männern prinzipiell möglich ist.

Nun wurden bereits einige Studien an Männern durchgeführt. Die Behandlung mit Injektionen wurde vorerst abgebrochen. Wegen Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen, Akne, Schmerzen an der Einstichstelle, einer veränderten Libido, Kopfweh, Muskelschmerzen und Gewichtszunahme.
Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich nur die Nebenwirkungen waren oder ob die Firma vielleicht gedacht hat, dass die Pille für den Mann nicht marktfähig ist. Das ist allgemein das Problem, wenn man die Medikamentenentwicklung ausschliesslich in privatwirtschaftliche Hände legt. Die Firmen überlegen sich, wie sie am meisten Geld verdienen, und nicht, wie sie das beste für eine gerechte Gesellschaft machen.

Trotzdem wurden die Nebenwirkungen als Grund angegeben. Wie erklären Sie es sich, dass die Pille eingestellt wird, obwohl Frauen bei der Pille denselben, wenn nicht sogar schlimmeren Nebenwirkungen ausgesetzt sind?
Ich bewerte das natürlich auch als sehr problematisch. Wie Sie schon sagten, sind die Nebenwirkungen vergleichbar mit denen anderer Medikamente und auch mit der Pille der Frau. Bei der Pille der Frau kommt zusätzlich das Thromboserisiko hinzu, das ja tatsächlich auch tödlich verlaufen kann. Und es gibt ja widersprüchliche Studien, bei denen einige Ergebnisse dafür sprechen, dass bei der Pille der Frau auch ein erhöhtes Brustkrebsrisiko besteht. Und Stimmungsschwankungen und Depressionen wurden schon in den 60er-Jahren als Nebenwirkungen der Pille bekannt. Von daher ist es erstaunlich, dass es für das eine Geschlecht als vollkommen natürlich angesehen wird, dass man mit den Nebenwirkungen umgehen kann, und dass es beim anderen Geschlecht als absolut unmöglich erscheint.

Wird bei Männern allgemein vorsichtiger mit Hormonbehandlungen umgegangen?
Man kann generell sagen, dass Frauen häufiger und standardisierter hormonelle Medikamente verschrieben werden als Männern. Viele Mediziner und Medizinerinnen bewerten es heute auch als unvorsichtig, dass früher die Hormonersatztherapie zahlreichen Frauen in der Menopause verschrieben wurde.

Was sind denn mögliche Gründe dafür, dass Frauen in solchen Dingen mehr zugemutet wird?
Das hängt mit der Geschichte der hormonellen Medikation zusammen. Die Endokrinologie, die Lehre von Hormonen, hat sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert entwickelt. Sie war relativ früh schon mit der Medikamentenentwicklung verbunden. In der Geschichte der Medizin gab es schon immer Frauenkliniken, aber keine Männerkliniken. Es gab schon früher Räume, in denen kranke und auch gesunde Frauen, die Kinder gekriegt hatten, zusammenkamen und man Medikamente testen und verschreiben konnte. Für Männer gab es das nie. Daher war auch für die Endokrinologie schon von Anfang an der Frauenkörper der viel grössere Einsatzort. Ganz einfach auch, weil die strukturellen Bedingungen und die Infrastruktur da war, um ihnen Medikamente zu verschreiben oder welche zu testen. Heute ist es ja immer noch so: Frauen haben Krebs-Vorsorgeuntersuchungen beim Gynäkologen – Männer nicht. Frauen befinden sich dadurch viel mehr im medizinischen System als die Männer und kriegen dementsprechend auch mehr verschrieben.

Inwiefern haben denn die früheren kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit damit zu tun, dass es bislang nur die Pille für die Frau gibt?
Die Hormone und die Einnahme von Hormonen sind traditionell und kulturell sehr viel enger an Frauen- als an Männerkörper geknüpft. Schon als es Hormone als solche noch nicht gab, galten Frauen wegen ihres Körpers als hysterisch, als weniger rational, viel emotionaler etc. Es herrschte die Vorstellung von der «Krankheit-Frau», wie die Schweizer Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger eines ihrer Bücher nannte. Diese kulturelle Vorstellung wurde dann in das Hormonmodell übernommen. Schnell fand man heraus, dass Frauen einen Hormonzyklus haben. Über dieses Zyklusschema hat man gesagt: Das ist das Zeichen dafür, dass dieser Körper instabil ist, das ist Hormon-Ungleichgewicht, Hormon-Chaos. In den pathologischen Vorstellungen hat man dieses Hormonmodell ebenfalls übernommen. Schnell wurde gesagt: Weil bei diesem Körper so viel schieflaufen kann, müssen wir das mit Medikamenten stabilisieren – damit in den Frauen quasi Ruhe herrscht. Ich denke, das hat zusätzlich dazu geführt, dass man eine grössere medizinische Infrastruktur für Frauen hat und der weibliche Körper als defizitärer angesehen wurde. Ausserdem gilt es generell als «normaler», dass Frauen Stimmungsschwankungen haben – deswegen wird diese Nebenwirkung der Pille für Frauen eventuell als weniger gravierend eingeschätzt als bei Männern.

Denken immer noch viele Menschen, dass Frauen für die Verhütung zuständig sind?
Auf alle Fälle. Die Gesellschaft ist oft so eingestellt, dass es heisst: Frauen sind die, die schwanger werden können, also müssen sie sich auch um die Verhütung kümmern. Und diese Meinung ist natürlich auch mit durch die Pille geprägt. Dadurch hat es sich etabliert, dass sich Männer nicht oder weniger darum kümmern müssen. Es gibt ja zwar Kondome, aber ich finde es allgemein wichtig, dass Verhütung und Fortpflanzung nicht nur das Problem der Frauen sind. Das wäre ja auch schon ohne Pille für den Mann möglich. Ein Mann kann sich ja trotzdem bei der Frau erkundigen, ob sie die Pille nimmt und wie sie verhüten möchte. Ich denke, dass es auch ohne ein solches Medikament wichtig ist, dass es in Sachen Verhütung zu einer gesellschaftlichen Veränderung kommt. Und sich auch mehr Männer verantwortlich fühlen.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 08.11.2016, 16:15 Uhr)

Lisa Malich

Die Wissenschaftlerin forscht an der Universität Lübeck unter anderem zur Geschichte der Pille und der Geschlechterforschung. Ausserdem hat sie eine Juniorprofessur in Wissensgeschichte der Psychologie inne.

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