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Almut Pohl

Die historische Formation von Persönlichkeitsstörungen. Eine diagnostische Kategorie im Spannungsfeld von Geschlechtervorstellungen und gesellschaftlichen Entwicklungen

In der 1948 veröffentlichten sechsten Version der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird, waren neben körperlichen Erkrankungen erstmals auch psychische Störungen enthalten. Zu diesen zählte die Pathologische Persönlichkeit – eine diagnostische Kategorie, die heute als Persönlichkeitsstörungen bekannt ist. In den darauffolgenden Revisionen der ICD wurde diese Kategorie wiederholt verändert: Neue Diagnosen wurden aufgenommen und bestehende gestrichen, Bezeichnungen und Konzeptualisierung wurden überarbeitet. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass es sich bei psychischen Störungen nicht um feststehende Entitäten handelt, sondern um dynamische und veränderliche Konzepte. Diese sind das Ergebnis von Aushandlungsprozessen und Bedeutungszuweisungen, welche in einen historischen und kulturellen Kontext eingebettet sind und von soziokulturellen Annahmen über Gesundheit und Krankheit geprägt werden. Das vorliegende Dissertationsprojekt nimmt diese Prozesse in den Blick, indem es die historische Formation von Persönlichkeitsstörungen in der ICD vor dem Hintergrund des sich verändernden Verständnisses von Geschlecht betrachtet. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie sich Geschlecht in die Konzeption von Persönlichkeitsstörungen einschreibt. Die Arbeit schafft damit eine neue Perspektive auf Persönlichkeitsstörungen im historischen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehung.

Im Zentrum des Dissertationsprojekts stehen die Rekonstruktion des historischen Formationsprozesses der Persönlichkeitsstörungen anhand der sechsten bis elften Revision der ICD von 1948 bis 2022 und die Analyse des Diskurses um Persönlichkeitsstörungen und Geschlecht. Zentrale Fragen der Arbeit sind: Welche Persönlichkeitsstörungen waren zu welchem Zeitpunkt in der ICD gelistet und wie waren diese konzipiert? Welche Veränderungen hinsichtlich der Benennung und Beschreibung der Diagnosen wurden vorgenommen? Welche Rolle spielte Geschlecht in der Konzeption von Persönlichkeitsstörungen in der ICD im historischen Verlauf? Wie wurde über Geschlecht in diesem Zusammenhang gesprochen? Welche Aspekte wurden in den Blick genommen, welche nicht? Wie geht die Produktion psychologisch-psychiatrischen Wissens in Form von diagnostischen Kategorien mit der Herstellung von Geschlecht einher?

Neben den historischen Versionen der ICD bilden Archivdokumente der WHO als herausgebende Institution der ICD die Materialbasis. Sie umfassen u.a. Berichte von Expertenkomitees, Konferenzberichte und Korrespondenzen zu Revisionsvorschlägen. Mittels einer systematisierten Literaturrecherche wird zusätzlich der fachzeitschriftliche Diskurs zum Zusammenhang von Geschlecht und Persönlichkeitsstörungen in der ICD analysiert. Als Ergänzung der Archivrecherche ist die Durchführung von Interviews nach Oral History-Leitsätzen angedacht.

An der Schnittstelle von Psychologie- und Geschlechtergeschichte wird so – dem Ansatz der Psychological Humanities folgend – eine geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektive auf die historische Formation der Persönlichkeitsstörungen eröffnet, um Entstehungskontexte und Kulturgebundenheit von psychischen Krankheiten aufzuzeigen.

Betreuung: Prof. Dr. Lisa Malich

Link zu Almut Pohl auf der Seite vom Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL).