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Prof. Dr. phil., dipl. biol. Christoph Rehmann-Sutter

Das gelebte Genom und chronisch entzündliche Darmerkrankungen

The lived genome and chronic inflammatory diseases. Integrating patients’ families’, doctors’ and scientists’ views on the significance of genetic susceptibility and individual risk loci for Crohn’s disease and ulcerative colitis. Ethical implications for informed consent to whole genome studies and individual clinical translation of research findings.

Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind chronische entzündliche Darmerkrankungen (CED), die für das alltägliche Leben der Betroffenen große Belastungen darstellen. In den letzten Jahren hat man immer mehr genetische Risikofaktoren entdeckt. Ein Teil der Ursachen scheint genetisch zu sein. Davor dominierten insbesondere in Deutschland psychosomatische Erklärungsmodelle und Therapieansätze. Bei dem Projekt ging es darum zu verstehen, wie Menschen mit einer vererbten Anfälligkeit für eine bestimmte Krankheit - in diesem Fall Crohn oder Colitis - den Genen Sinn zuschreiben, bzw. welche Bedeutungen sie ihnen lebenspraktisch verleihen.

Dazu wurden insgesamt 31 Patientinnen und Patienten mit CED im Alter von 16 bis 65 Jahren sowie 11 Angehörige in qualitativen Interviews befragt. Gefragt wurde zum Beispiel, wie es ist mit einer CED zu leben, wie sich die Krankheit auswirkt auf das Leben, die sozialen Beziehungen, die Wahrnehmung des eigenen Körpers und wie da die genetischen Faktoren kognitiv und praktisch eingebaut werden. Wir haben konkret gefragt, was Patient:innen und ihre Angehörigen unter Genen verstehen und was es für sie konkret bedeutet, dass ihre Krankheit nunmehr auch genetisch erklärt wird.

Eine Gruppe fand die psychosomatische Erklärung eher als lästig, weil sie den Betroffenen quasi die Schuld an der Krankheit zuweist. Nach dem Motto, wenn Sie besser mit sich umgehen, weniger Stress haben und das Richtige essen, bleiben sie gesund. Das empfanden sie als Last oder Überforderung. Da kommt die genetische Erklärung als eine Entlastung. Im Gegensatz dazu stand ein zweite Erzählmuster. Menschen, die großen Wert darauf legen, dass sie eine gewisse Kontrolle über die Krankheit haben, sahen die psychosomatische Erklärung eher positiv. Denn sie können Einfluss nehmen auf die Art, wie sie unter der Erkrankung leiden. Die genetische Erklärung steht dazu für sie ein bisschen in Konkurrenz. Sie nahmen die genetische Erklärung entweder nicht für so wichtig oder lehnten sie eher ab. Das Forschungsprojekt steht in einem größeren Kontext zum Verständnis vom Genom jenseits der biomedizinischen Sicht auf das genetische Wissen. Für Betroffene existiert neben dem, was in der Biologie unter Genom verstanden wird, eine zweite Bedeutungsebene des Genoms, das den Sinn von genetischen Informationen im sozialen Leben von denjenigen Menschen umfasst, die von ihm konkret berührt sind.

Darüber hinaus erforschte das Projekt in einem Seitenzweig, inwieweit partizipative online Gesundheitsnetzwerke (z.B. PatientsLikeMe) und die Informationen von „Direkt-zum-Konsumenten“ Gentestanbietern (z.B. 23andMe) die Prozesse der Sinngenerierung von Nutzer:innen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen beeinflussen. Dabei ist herausgekommen, dass derartige Angebote, trotz teilweise erheblichen datenschutzrechtlichen Konsequenzen, eine neue Form der Sozialität für Patient:innen generieren, die insbesondere im Feld chronischer Darmerkrankungen für mehr Selbstwirksamkeit sorgen kann. Als Selbstwirksamkeit wird in diesem Kontext die Fähigkeit von Patient:innen verstanden, souverän mit genetischen und mikrobiomischen Informationen umzugehen und dabei sowohl zu erfahrungsbasierten Experimentator:innen ihrer eigenen Körper sowie Advokat:innen ihrer eigenen gesundheitlichen Identität zu werden.

Gefördert im DFG-Cluster of Excellence “Inflammation at Interfaces” 2013-2016

Projektteam:

Prof. Dr. phil., dipl. biol. Christoph Rehmann-Sutter (PI)

Dr. phil. Dana Mahr (geb. Dominik Mahr), Assistant Professor (University of Geneva, then postdoctoral researcher University of Lübeck)