Zeitdiagnostik und Zeitgeschichte der Medizin
Die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte ist von der Wissenschaftsforschung und den Science and Technology Studies (STS) inspiriert worden, vor allem die Herstellungsweisen von Wissen, die sozialen Kontexte seiner Verhandlung sowie die Praktiken und Institutionen seiner Anwendung zu untersuchen. Medizin- und Wissenschaftsgeschichte werden dadurch zu Wissenschafts- und Gesellschaftsreflexionen. Geschichtsschreibung geschieht immer aus der Gegenwart heraus, und mit dieser Öffnung wird sie zu kritischer Zeitdiagnostik. Manche der Themen verdichten sich dabei zu längeren Projekten (siehe Medizinphilosophie), andere verdanken sich rezenten Entwicklungen, aktuellen Herausforderungen und öffentlichen Debatten.
Die Diskussion um die Frage, ob Big Data nur der Name für massiv gesteigerte Computerkapazitäten oder Ankündigung neuer Wissensordnungen ist, wurde Gegenstand für ein Special Issue der Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, NTM, im Herbst 2017. Schon viel früher hatte ein Aufsatz die Karriere des Stresskonzeptes als Archäologie der Digitalisierung diskutiert: Kummer und Sorge im Digitalen Zeitalter, woran zehn Jahre später eine Relektüre von Walter B. Cannons berühmten Buch „The Wisdom of the Body“ anschloss.
Die Diskussion um Objektivität, Wahrheit und Fake Science führten zu dem Aufsatz „Wahrheit, Wirklichkeit und die Medien der Aufklärung“. Der Aufsatz entstand 2018. Damals konnte noch keiner absehen, dass kurz darauf die selben Fragen mit ganz anderer Dringlichkeit angesichts der COVID-Pandemie verhandelt werden sollten. Eine kritische Besichtigung der laufenden Debatte auf Soziopolis „Soziologisches zur Pandemie“ führte zum Aufsatz „Vom Unwissen in Zeiten von Corona“. Ansteckung war schon viel früher Gegenstand der medientheoretischen Debatte, was zu einem Aufsatz über Viren, Wissen und HIV geführt hatte: „Vivarium des Wissens. Kleine Ontologie des Schnupfens." aus dem Sammelband „VIRUS!. Mutationen einer Metapher“.
Die Neubesichtigung einschlägiger Figuren und Konzepte anlässlich von Konferenzen oder Jahrestagen führt fast automatisch immer wieder dazu, Wissenschaftsreflexion mit Zeitdiagnostik zu verknüpfen – hier entsprechend gegliedert nach Aufsätzen zu Personen bzw. Themen:
Personen
Borck C (2022) Zur Faszinationsgeschichte von Wunderkindern. In: Michael Hundt (Hg.): Das Lübecker Wunderkind Christian Henrich Heineken (1721-1725). Lübeck: Schmidt-Römhild, 29-41.
Borck C (2021) Why not Postphenomenology? Ein Zwischenruf zu Don Ihdes Technikphilosophie. Jahrbuch für Technikphilosophie 7: 236-256.
Borck C (2021) Viktor Emil von Gebsattels Aufstieg zum Deuter des Zeiterlebens. Psychopathologie vor, im und nach dem Nationalsozialismus. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15(1): 19-36.
Stammberger B, Lipinski B, Borck C (2021) (Hg.) Schwache Nerven, starke Texte: Thomas Mann, die bürgerliche Gesellschaft und der Neurasthenie-Diskurs, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann [Thomas-Mann-Studien Bd. 57]
Borck C (2020) Organismus ohne Aufbau. Wie Kurt Goldstein im Exil zum Holisten wurde. In: Stefan Willer & Andreas Keller (Hg.): Selbstübersetzung als Wissenstransfer. Berlin: Kadmos, 211-232.
Borck C (2018) Wissenschaftsphilosophie im Windschatten der Weltpolitik: Wie Karl Poppers Idee der Falsifikation im Exil zum Erfolgsmodell wurde. In: Johannes Feichtinger, Marianne Klemun, Jan Surman & Petra Svatek (Hg.): Wandlungen und Brüche: Wissenschaftsgeschichte als politische Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 37-42.
Borck C (2017) Soups and Sparks Revisited: John Eccles’ Path from the War on Electrical Transmission to Mental Sparks. Nuncius 32: 286-329.
Borck C (2014) Die Weisheit der Homöostase und die Freiheit des Körpers. Walter B Cannons integrierte Theorie des Organismus, Themenheft „Stress!“. Zeithistorische Forschung/ Studies in Contemporary History 11(3), 472-477.
Borck C, Klapper W, Koch K, Mechler U, Fuhry E & Siebert R (2013) Lymphona ‚type-K.’ - In memory of Karl Lennert (1921-2012). Leukemia 27: 519-521.
Borck C (2012) Verhaltensgenetik und Elektroenzephalographie: Friedrich Vogels Grundlagenforschung für einen genetischem Humanismus. In: Anne Cottebrune & Wolfgang Eckart (Hg.): Das Heidelberger Institut für Humangenetik: Vorgeschichte und Ausbau (1962-2012). Festschrift zum 50 jährigen Jubiläum. Heidelberg: Universität Heidelberg, 130-148.
Borck C (2009) Humanist und technischer Aufklärer. In: Uta von Debschitz & Thilo von Debschitz (Hg.): Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch. Wien: Springer, 10-21.
Borck C (2008) Schreiben Lesen Rechnen. Edgar Douglas Adrian über Sinn und Sinnleere der Hirnschrift. In: Caroline Welsh & Stefan Willer (Hg.): „Interesse für bedingtes Wissen“: Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen. Paderborn: Fink, 55-68.
Borck C (2007) Vom Spurenlesen und Fintenlegen. Canguilhems Votum für eine Empirie organischer Rationalität. Nach Feierabend: Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3: 213-225.
Borck C (2004) Message in a bottle from ‘the crisis of reality:’ On Ludwik Fleck’s interventions for an open epistemology. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 35: 447-464.
Borck C (1998) John C. Eccles (1903-1997): Neurophysiologist and Neurophilosopher. Journal of the History of the Neurosciences 7: 76-81.
Themen
Borck C (2023) Gewissen im 21. Jahrhundert – Potenziale eines veralteten Begriffs. Die Psychotherapie 68(1): 58-63.
Borck C (2022) Zwischen Gesundheitsfürsorge und technischem Fortschritt: Medizinische Themen im Naturwissenschaftlichen Verein Lübeck. In: Wolfang Czieslik & Jan Zimmermann (Hg.): NaWi(e) war das? 150 Jahre Naturwissenschaftlicher Verein zu Lübeck 1872-2022. Lübeck: Schmidt-Römhild, 59-75.
Borck C (2020) Utopía y ucronía en relación con la medicina y la [Utopie und Uchronie in Bezuf auf Medizin und Gesundheit]. In: Juan de Dios Bares Partal & Faustino Oncina Coves (Hg.): Utopías y Ucronías. Una aproximación histórico-conceptual. Barcelona: edicions bellaterra 2020, 357-383.
Borck C (2012) Granatenschock, Gesichtsverlust und die Geburt des Roboters im Ersten Weltkrieg. In: Hans-Arthur Marsiske (Hg.): Kriegsmaschinen. Roboter im Militäreinsatz. Hannover: Heise Zeitschriften Verlag, 81-94.
Borck C (2011) Quo vadis, Krankenhausgeschichte? Plädoyer für ihre Fortführung als Umbaugeschichte. Historia Hospitalium 27:17-22.
Borck C (2011) Fast nichts. Über das Unscheinbare in Kunst und Wissenschaft. In: Julia Fleischhack & Kathrin Rottmann (Hg.): Störungen. Berlin: Reimer, 110-123.
Borck C (2010) Weltmilieu. Die Expo ’67 als Vision globaler Steuerung. In: Thomas Brandstetter, Karin Harrasser & Günther Friesinger (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume. Wien: Turia + Kant, 177-192.
Borck C (2008) Die Welt auf der Kippe. Psychiatrie und Krisenanalyse bei Helmut Selbach. In: Hanfried Helmchen (Hg.): Psychiater und Zeitgeist. Zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin. Lengerich: Pabst Science Publishers, 351-368.
Borck C (2008) Der Transhumanismus der Kontrollmaschine: Die Expo ’67 als Vision einer kybernetischen Versöhnung von Mensch und Welt. In: Michael Hagner & Erich Hörl (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 125-162.
Borck C (2006) Lässt sich vom Gehirn das Lernen lernen?. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (B5): 87-100.
Borck C (2001) Electrifying the Brain in the 1920s. Electrical Technology as a Mediator in Brain Research. In: Paola Bertucci & Giuliano Pancaldi (Hg.): Electric Bodies: Episodes in the History of Medical Electricity. Bologna: Centro Internazionale per la Storia delle Università e della Scienza, 239-264.
Borck C (2000) Der Kopf im Stromkreis: Elektrodiagnose und Elektrotherapie der Psyche in der Weimarer Republik. In: Deutsches Hygiene Museum (Hg.): Gehirn und Denken - Kosmos im Kopf. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 118-129.