Diskussion der Bedeutung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts über die Beschwerden zum Klimaschutzgesetz
Klimaschutz ist ein Grundrecht!
Gerichte können die eigenen Staaten im Namen des Grundrechtsschutzes zwingen, schärfere Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021, welcher am 29. April publiziert wurde, ist von grundsätzlicher und weitreichender Bedeutung. Im Urteil wurden vier verschiedene Klagen behandelt, die alle das Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019 (KSG) in einer bestimmten Art hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) angegriffen hatten. Das Bundesverfassungsgericht befand, dass das KSG nachgebessert werden muss: Es fehlt ein verbindlicher Pfad der Reduktion von Treibhausgasemissionen ab 2031. Der deutsche Gesetzgeber ist nun verpflichtet, die Ergänzungen bis zum 31. Dezember 2022 vorzunehmen.
Das ist sensationell, weil das Bundesverfassungsgericht damit anerkennt, dass der Schutz vor Klimawandel ein Grundrecht ist. Die Erhitzung des Klimas führt zu Schädigungen der Ökosysteme, von welchen menschliches Leben abhängig ist (Rn 148). Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer - selbst eine der Klägerinnen – interpretierte das neue Urteil treffend: „Klimaschutz ist unser Grundrecht.“ Indem das Bundesverfassungsgericht die Klagen zugelassen hat, hat es grundsätzlich deutlich gemacht, dass man wegen zu geringen Anstrengungen zum Klimaschutz an das Verfassungsgericht gelangen kann und dass die Verletzung der Grundrechte wegen fehlendem Klimaschutz tatsächlich auch gegen einen Staat einklagbar ist. In einigen Punkten folgte das Bundesverfassungsgericht dabei den Fußstapfen des höchsten Gerichts in den Niederlanden, das 2019 den niederländischen Staat zu mehr Klimaschutz verpflichtete.
Konkret erkannte das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der grundrechtlichen Pflichten in Bezug auf das Fehlen eines genau festgelegten Reduktionspfades ab 2031, also dem Weg des Klimaschutzes (Rn 257). Die Festsetzung der Reduktionsziele (Erwärmung möglichst unter 1,5° C, minus 55% Emissionen gegenüber 1990 bis 2030) beanstandete das Gericht dabei nicht. Diese Ziele sind laut dem Bundesverfassungsgericht Ergebnis politischer Abwägungen und auf der Basis der Grundrechte nicht zu beurteilen (Rn 159 ff.). Sie drücken politisch in Kauf genommene Gefährdungen aus. Diesen Gefährdungen könne auch mit Anpassungsmaßnahmen ein Stück weit begegnet werden (Rn 164 f.).
Über den Auftrag an den deutschen Gesetzgeber zur Nachbesserung des KSG hinaus ist das Urteil aber in weiterer Hinsicht bedeutungsvoll. Wir möchten hier auf vier Punkte hinweisen:
Erstens sind auch Maßnahmen zum Klimaschutz Einschränkungen der Grundfreiheiten und werden von bestimmten Kreisen, die sich einschränken müssen, deshalb häufig bekämpft oder in die Zukunft verschoben. Diese Maßnahmen sind aber bereits heute gerechtfertigt und notwendig, um wesentlich größere Einschränkungen derselben Grundfreiheiten in der Zukunft zu vermeiden: einerseits durch die ungünstigen Folgen des Klimawandels und durch die dann notwendig werdenden viel drastischeren Emissionsreduktionsmaßnahmen. Mit gegenwärtigen Einschränkungen lassen sich deshalb größere Grundrechtseinschränkungen in der Zukunft zu vermeiden (Rn 120 ff.; Rn 186). Das ist eine Argumentationsfigur mit weitreichender Bedeutung zur grundrechtlichen Rechtfertigung von griffigeren Gesetzen im ökologischen Nachhaltigkeitsbereich.
Zweitens erklärte das Gericht Artikel 20a GG (Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen) als eine justiziable Rechtsnorm (Rn 205 ff.). Dieser Artikel verpflichtet den Staat zum Schutz der Biosphäre zugunsten der zukünftigen Generationen und zielt durch die Einhaltung der Paris-Ziele auch auf die Herstellung von Klimaneutralität (Rn 198). Das Gericht entschied, dass Grundrechtseinschränkungen mit Artikel 20a GG vereinbar sein müssen (Rn 190). Darum darf die Last der Grundrechtseinschränkungen aufgrund von restriktiven Emissionsreduktionsregelungen nicht einseitig auf die zukünftigen Generationen verteilt werden (Rn 193 f.). Da Artikel 20a GG nicht nur den Klimaschutz betrifft und das Nachhaltigkeitsprinzip allgemein verankert, könnte diese Feststellung des Bundesverfassungsgericht ein Einschreiten der Gerichte auch in anderen kritischen Bereichen, wie z.B. dem Schutz der Biodiversität, ermöglichen.
Drittens deutete das Gericht an, dass die klimabezogenen Schutzbestimmungen des deutschen Grundgesetzes globale Anwendung finden könnten. Einige der Kläger stammen nämlich aus Bangladesh und Nepal. Obwohl Deutschland selbstverständlich keine Hoheit über Anpassungsmaßnahmen in anderen Ländern hat, kann sich der Staat aber doch auf internationaler Ebene für eine Emissionsverringerung einsetzen (Rn 178 ff.). Weil Deutschland dies tatsächlich getan hat und weiterhin tut, werden laut dem Gericht die Grundrechte der Kläger in Bangladesh und Nepal aber nicht verletzt (Rn 181). Das bedeutet: Deutschland muss sich in ausreichendem Maße einsetzen. Der deutsche Staat trägt die Verantwortung, sich gegen die Verletzung der im deutschen Grundgesetz geschützten Grundrechte von Menschen auch in anderen Ländern einzusetzen, soweit sein Einfluss tatsächlich reicht.
Viertens wurde geklärt, dass die fehlende Eindeutigkeit in der Kausalität zwischen den Emissionen eines bestimmten Staates und der Erderwärmung kein Entschuldigungsgrund für das Fehlen oder für die Laxheit von Klimamaßnahmen ist (Rn 149; Rn 199 ff.). Der Geltung von Art. 20a GG steht nicht entgegen, dass der Klimawandel ein globales Phänomen ist, in welchem sich die Anteile Deutschlands nicht isolieren lassen. Deutschland alleine kann die Erfüllung des globalen Klimaschutzes zwar nicht garantieren. Dennoch besteht nach diesem höchstrichterlichem Urteil die Verpflichtung des Staates Deutschland, auf überstaatlicher Ebene nach Lösungen zu suchen und eigene Maßnahmen tatsächlich zu ergreifen. Man kann durch das Fehlen der kausalen Zuschreibung der Klimaerwärmung auf einzelne Ursachen – auf die Emissionen von Deutschland – Untätigkeit nicht rechtfertigen.
Der Staat ist also nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch die eigene Verfassung für wesentlich mehr Klimaschutz verantwortlich zu machen, als es bisher anerkannt war. Das ist eine gute Nachricht für das Klima und für die Lebensinteressen der zukünftigen Generationen.
Autoren: Meret Rehmann und Christoph Rehmann-Sutter
- Meret Rehmann, MLaw, ist Anwältin und Doktorandin in Umweltrecht an der Universität Zürich
- Christoph Rehmann-Sutter, Dr. phil., dipl. biol., ist Professor für Theorie und Ethik der Biowissenschaften an der Universität zu Lübeck
"Mit gegenwärtigen Einschränkungen lassen sich deshalb größere Grundrechtseinschränkungen in der Zukunft zu vermeiden (Rn 120 ff.; Rn 186). Das ist eine Argumentationsfigur mit weitreichender Bedeutung zur grundrechtlichen Rechtfertigung von griffigeren Gesetzen im ökologischen Nachhaltigkeitsbereich."
Lasst uns hoffen, nein, lasst uns daran arbeiten, dass dieses Denken zur Normalität wird beim Umgang mit langfristigen, generationenübergreifenden Problemen. Wenn Leid erlebt wird, ist es immer "hier" und es es ist immer "jetzt" – auch wenn wir dies gerne und für einen "normalen Alltag" geradezu notwendigerweise immer wieder verdrängen wollen/müssen. Genauso wie es nicht sein darf, dass weit entferntem Leid weniger intrinsisches Gewicht zugeschrieben wird als Leid in unserer geographischen Nähe, so darf es nicht sein, dass zukünftigem Leid weniger intrinsisches Gewicht zugeschrieben wird als gegenwärtigem Leid. Lasst uns diesem Umstand Rechnung tragen und langfristiges Denken ausser- und innerhalb von Institutionen fördern!