Susann Müller
Therapie zwischen Machtausübung und Selbstbestimmung - Eine historische Diskursanalyse zur Applied Behavior Analysis bei autistischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Die Autismus-Spektrum-Störung wird medizinisch als Störung der neuronalen Entwicklung definiert, die durch Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie durch stereotype Verhaltensmuster und Interessen gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu diesem defizitorientierten Modell sehen viele autistische Menschen Autismus nicht als Krankheit, sondern als neurologisch bedingte Behinderung und Teil einer größeren neurologischen Vielfalt. Diese gegensätzlichen Sichtweisen auf Autismus spiegeln sich in kontroversen Debatten in der Autismusforschung und -therapie wieder.
Eine dieser Kontroversen dreht sich um die Applied Behavior Analysis (ABA), die auf operanter Konditionierung beruht. In den USA hat sich ABA zu einem festen Bestandteil der Autismustherapie entwickelt, begleitet von vielfältiger Kritik aus der autistischen Community. Insbesondere die mangelhafte Evidenz, massive Interessenkonflikte und ethische Missstände wie die Nähe zu Konversionsbehandlungen sowie mögliche psychische Spätfolgen werden kritisiert.
ABA und darauf aufbauende Behandlungsprogramme werden auch in Deutschland eingesetzt. Allerdings fehlen hierzu bislang eine umfassende Analyse und Einordnung. Wie wurden die Entwicklungen in den USA von unterschiedlichen Interessengruppen in Deutschland rezipiert? Welche Aussagen zu Normalität und Behinderung lassen sich im Diskurs finden? Welche diskriminierenden und exkludierenden Effekte lassen sich jeweils feststellen und wie entwickeln sich diese? Wie werden insbesondere der Evidenzbegriff, das Recht auf Selbstbestimmung und ethische Bedenken diskutiert? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die epistemische (Un)gerechtigkeit und das Machtverhältnis zwischen den beteiligten Akteur*innen ziehen?
Ausgehend von der Theorie Michel Foucaults werden Diskurse als institutionalisierte Gruppen von Aussagen verstanden. Durch Formationsregeln und Ausschließungsmechanismen wird bestimmt was als "wahr" und sagbar gilt; so entsteht ein Diskurs-Macht-Geflecht. Angelehnt an die wissenssoziologische Diskursanalyse Reiner Kellers und die Interdiskursanalyse nach Jürgen Link sollen die Aushandlungsprozesse und Machtverhältnisse zwischen den einzelnen Akteur*innen in der Geschichte von Diskurs und Gegendiskurs zu ABA in Deutschland herausgearbeitet werden. Dabei bewegt sich die Arbeit im Grenzgebiet zwischen Psychologie- und Psychiatriegeschichte, Disability Studies sowie Critical Autism Studies.
Ziel des Projekts ist eine umfangreiche Darstellung der Geschichte von Applied Behavior Analysis in der deutschen Autismusforschung und -therapie. Mit der besonderen Betrachtung der Machtverhältnisse und des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen soll die Arbeit eine mögliche Grundlage bieten für eine gesundheits- und gesellschaftspolitische Debatte über die Zukunft von ABA und darauf aufbauender Behandlungskonzepte.
Betreuung: Prof. Dr. Lisa Malich