Skip to main content
| English

Sonja Mählmann

Dissertation: Text und Gehirn. Zum Tod des Autors und seiner Wiederauferstehung in der modernen Gedächtnisforschung.

Um den Herd epileptischer Anfälle einzugrenzen, nahm der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield in den 1930er Jahren erste Elektrostimulationen am freigelegten Gehirn seiner lokal anästhesierten Patienten vor. Dabei löste die feine Elektrode im Bereich der Temporallappen unerwartet komplexe Halluzinationen optischer und akustischer Art aus. Da diese Phänomene immer auch biographisch geprägt waren, glaubte Penfield, den Sitz des Gedächtnisses im Hirn gefunden zu haben. Man hoffte nun, das Gehirn gezielt nach verborgenen, unbewussten Erinnerungen durchsuchen zu können – ähnlich wie ein geübter Klavierspieler auf seiner Tastatur eine Melodie erzeugt. Demnach würde die kortikale Elektrostimulation in wenigen Momenten genau die Art von Erinnerungen provozieren, die der Psychoanalytiker Tage, Monate oder Jahre freizulegen versucht.
Ausgehend von dieser Szene der Wissenschaftsgeschichte rekonstruiert das Dissertationsprojekt vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Subjekttheorien die Versuche, das Subjekt als gescheiterte Kategorie der Moderne nun naturwissenschaftlich in den Griff zu bekommen. Denn während die Neurowissenschaften in der Ausarbeitung ihrer Gedächtnistheorien Fragen bezüglich des Subjekts und seiner Geschichte für sich reklamieren, ist in den Geisteswissenschaften spätestens seit Roland Barthes' provokantem Aufsatz „Der Tod des Autors“ (1968) eine gegenläufige Entwicklung zu konstatieren. Die Autonomie des Menschen, als dessen Ausdruck gerade die Autobiographie ehemals galt, wird sukzessiv demontiert: Das gegenwärtige Wissen um die sprachliche Konstruiertheit jeder Selbstaussage sowie um die mediale Determinierung autobiographischen Schreibens macht aus literaturwissenschaftlicher Sicht ein objektives Verständnis des Menschen unmöglich.
Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht dabei die radikale Neugestaltung der naturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wurde das Gedächtnis in der Klinik der 1950er Jahren als eine lebenslang operierende, automatische Aufzeichnungseinheit entdeckt, so brechen nachfolgende Konzeptionen radikal mit den Prinzipien des vorhergehenden Modells von Kontinuität, Stabilität und Abgeschlossenheit. Die Funktionen des Gedächtnisses hängen nun wesentlich an dessen aktivierender Durcharbeitung bzw. „Verfälschung“ – eine Vorstellung, die für heutige Konzeptionen noch immer entscheidend ist.

Betreuung:
Prof. Dr. Thomas Macho, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Cornelius Borck