Prothesen und Enhancement
Medizinische Ersatzlösungen als technische Selbstentwürfe
Auf den ersten Blick erscheint die Sache einfach und der Unterschied klar: Eine Prothese ersetzt ein verlorenes menschliches Körperteil, während Enhancement auf Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit zielt. Die Prothese ist ein Ersatz, der ganz beim biologischen Vorbild bleibt – sofern denn Technik ausreicht, um hier überhaupt von einer technischen Nachahmung sprechen zu können: Krücken z.B. sind so behelfsmäßig und unvergleichlich mit einem menschlichen Bein, dass sie oft nicht als Prothese angesehen werden.
Aber was passiert, wenn bei der Arbeit am technischen Ersatz eine Lösung naheliegt, die partiell anderes leistet als das biologische Vorbild? Und was ist, wenn der technische Ersatz zum Einsatz kommt, um natürlicherweise vorhandene Grenzen menschlicher Organe zu überwinden? Mit geschliffenen Linsen lassen sich Sehfehler korrigieren oder Mikroskope bauen. Die Welt ist voller technischer Dinge, mit denen menschliches Leben sich heute völlig anders vollzieht, als von der Natur vorgegeben. – Entsprechend hatte Sigmund Freud in seiner Kulturtheorie davon gesprochen, dass der Menschen „sozusagen eine Art Prothesengott“ sei, „recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt“.
Anders als Abhängigkeit von moderner Technik vermuten lässt, reicht die Geschichte der Prothetik bis in sehr frühe Zeiten zurück. Das verweist darauf, dass in der Medizin immer die Praxis zuerst kommt, weil konkretes Leiden dringlich der Abhilfe bedarf und dazu auch technische Lösungen gesucht werden, noch bevor ein Problem wissenschaftlich durchdrungen ist. Einer der berühmtesten Prothesenträger der Weltliteratur ist Captain Ahab aus Melvilles Moby Dick, dem bekanntlich der weiße Wal ein Bein abgebissen und ihn dadurch zum Rachefeldzug angestachelt hat. Dieser vermeintliche Abenteuerroman für Jugendliche ist eine grandiose Fundamentalauseinandersetzung mit Natur und Kultur, technischer Eroberung und menschlicher Zivilisation, die immer wieder neu zu medientheoretischen Interpretationen inspiriert. Als spekulativ-kritische Kommentare zu den einzelnen Kapiteln wurden sie fortlaufend in der neuen Rundschau publiziert. Cornelius Borck war Teil der Kommentargruppe und beschäftigte sich mit den Kapitel 62, 75, 77, 100 und 125.
Besonders die Zeiten einer künstlichen Bedarfssteigerung wie im Krieg, wenn massenhaft versehrte Körper versorgt werden müssen und eine Verstümmelung nicht einfach als Schicksal abgetan werden kann, markieren Innovationsperioden – die bewegliche Hand für Götz von Berlichingen, die Entwicklung von brauchbaren Beinprothesen im amerikanischen Bürgerkrieg, Ferdinand Sauerbruchs Arbeit an einer greifenden Hand im 1. Weltkrieg. Diese zynische Funktionslogik rief Kritiker auf den Plan, allen voran die Pazifisten unter den Berliner Dadaisten. Sie zeichneten Soldaten als Marionetten und die Befehlshaber als gefühllose Maschinen. Raoul Hausmann lobte am Sauerbruch-Arm, dass sogar Schüsse schmerzlos durch die Prothese durchgingen. Wenig später träumen die Ingenieure des Kommunismus vom Neuen Menschen, der durch Technik und Medien geschaffen werden soll – und an dem schon Raoul Hausmann mit seinem Optophon gearbeitet hatte, das die Sinneswahrnehmung des Menschen revolutionieren sollte. Für den Alltag taugliche Prothesen hingegen scheiterten oft aus vergleichsweise banalen Gründen, weil z.B. ein Blindenverein die Brailleschrift fördern und deshalb keinen Schrift-Ton-Wandler unterstützen wollte.
Cyborgs wurden am Ende des alten Jahrtausends zum Faszinosum, als die Digitalisierung neue Kommunikationsformen möglich machte. Donna Haraway und andere machten auf die Herkunft dieser Figur aus der Weltraumforschung im Kalten Krieg aufmerksam und erkannte gerade darin Chancen kritischer Aneignung. Wissenschaftshistorische und kulturwissenschaftliche Perspektiven können nicht nur noch viel weiter zurückreichende Anknüpfungspunkte aufspüren, sondern sie bieten damit auch Ressourcen an für aktuelle gesellschaftliche Diskussionen um Enhancement und Selbstoptimierung.