Leid und Unrecht von Kindern in der Psychiatrie
Aufbauend auf der Studie zu Medikamentenversuchen untersuchte das Institut von 2019 bis 2021, wiederum im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren Schleswig Holstein, die Leid- und Unrechtserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen Anstalten und Einrichtungen der Behindertenhilfe für die Jahre 1949 bis 1990 in Schleswig-Holstein.
In Zusammenarbeit mit Prof. Gabriele Lingelbach (Historisches Seminar, CAU Kiel) hat das Team der Universität zu Lübeck um Prof. Cornelius Borck 36 Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und ehemaligen Mitarbeitern durchgeführt sowie vorhandene Aktenüberlieferungen und zeitgenössische Medienberichterstattungen ausgewertet. In Kooperation mit Prof. Sebastian von Kielmansegg (Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Medizinrecht, CAU Kiel) wurden die rechtlichen, institutionellen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe während des Untersuchungszeitraumes aufgearbeitet.
Um ein Spektrum möglichst verschiedener Einrichtungen zur Betreuung Minderjähriger abzubilden, wurden die Verhältnisse und Vorkommnisse in der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung Hesterberg des Landeskrankenhauses Schleswig (heute: Helios Klinikum Schleswig), im Haus Schöneberg in Wyk auf Föhr (heute: Paritätisches Haus Schöneberg, einer Langzeiteinrichtung für Geistig- und Mehrfachbehinderte aus Berlin) und in der Gehörlosenschule mit Internat in Schleswig (heute: Landesförderzentrum Hören und Kommunikation) untersucht.
Anhand der Auswertung der Interviews und Recherchen zeigte sich ein erschreckendes Bild: für alle untersuchten Einrichtungen ließen sich zahlreiche Fälle von Leid und Unrecht dokumentieren. Sie reichten von seelischer und körperlicher Vernachlässigung, über Misshandlung, Zwang, Ausbeutung durch Arbeit und physischer oder seelischer Gewalt in Form von Schlägen, Essensentzug oder Zwangsessen bis hin zu medikamentöser Ruhigstellung und sexuellem Missbrauch. Die Kinder und Jugendlichen waren diesen verschiedenen Formen von Gewalt hilflos ausgesetzt und leiden unter diesen Folgen bis heute. Die vom Personal ausgehende Gewalt überstieg die damals noch gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen von Züchtigungs- und Erziehungsmaßnahmen in beträchtlichem Maße und war obendrein längst offiziell verboten.
Die Analyse der gesundheitspolitischen Entwicklungen in Schleswig-Holstein machte deutlich, dass die beschriebenen Gewaltverhältnisse in stationären Einrichtungen durch strukturelle Rahmenbedingungen wie bauliche Mängel, beengte Verhältnisse und Personalmangel begünstigt wurden. Selbst die Reformbemühungen nach der Psychiatrie-Enquête 1975 kamen in Schleswig-Holstein nur sehr verzögert an, das Bundesland beteiligte sich aus politischen Gründen nicht am Modellprogramm „Psychiatrie“ der Bundesregierung und in den 1980er Jahren sorgte ein Einstellungsstopp für Personal sogar dafür, dass sich die Lage der untergebrachten Kinder und Jugendlichen wieder verschlechterte. Personalmangel, Überbelegung und Unterversorgung blieben im gesamten Untersuchungszeitraum bestehen. Die undifferenzierte Unterbringung von psychisch erkrankten gemeinsam mit geistig behinderten Minderjährigen machte es unmöglich, die PatientInnen und BewohnerInnen störungs- und bedürfnisorientiert zu behandeln.
Für alle drei untersuchten Einrichtungen wurden Fälle für physische, psychische, medizinische und sexuelle Gewalt dokumentiert. Das Ausmaß war höher in den Institutionen, die langfristig schwer erkrankte Minderjährigen beherbergten und schlechter an soziale und schulische Infrastrukturen angebunden waren.
In Ergebnis unterstreicht das Projekt die Notwendigkeit eines umfassenden rechtlichen Schutzes von minderjährigen PatientInnen und BewohnerInnen stationärer Einrichtungen sowie einer unabhängigen Kontrolle.
Den Abschlussbericht dieses Projektes können Sie hier downloaden.
Projektteam
Dr. Christof Beyer, Prof. Dr. Cornelius Borck, Nils Kühne, Prof. Dr. Gabriele Lingelbach, Dr. Nils Löffelbein