Retterbeziehungen und Kindeswohl
Ergebnisse
Wichtigste Ergebnisse der philosophischen und soziologischen Studien zur Geschwisterspende
1. Philosophisch
Die Verständnisse dessen, was ein Kind braucht, um gut zu leben und glücklich zu werden, und inwiefern das Kindeswohl im Zusammenhang mit den Eltern, der Familie und der Gesellschaft gesehen werden müssen, sind umstritten und haben sich historisch stark gewandelt. Das "Wohl" war über lange Zeit ein Begriff, der dem Gelingen des Lebens von Erwachsenen vorbehalten war. Für Kinder sprach man eher von “Gedeihen” oder vom „Zögling“. Heute gehört der Begriff des Kindeswohls in das Standardinventar der juristischen, sozialwissenschaftlichen und psychotherapeutischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang von Familienkonflikten und Scheidungsproblematiken, auch ist er in lebhafte Debatten im medizinethischen Kontext eingeführt. Das Kindeswohl als juristischer Begriff, der zumeist im gleichen Atemzug mit der Kindeswohlgefährdung genannt wird, und der allgemeinere Begriff des Wohls des Kindes berühren zeitlich sowohl die Gegenwart wie auch die Zukunft.
Der Fokus auf das Kindeswohl eröffnete in den jeweiligen Kontexten eine eigene Forschungsperspektive, die zwischen rationalen Kriterien, in Form von Normen und Werten, und der Empathie für die betroffenen Menschen vermittelt. Sie vermittelt zwischen der gelebten Praxis und der theoretischen Beobachtung, zwischen einem konkreten Thema und seiner narrativen Konstitution. Die damit verbundene Interpretation des Kindeswohlkonzepts wird von der Beobachtung gestützt, dass das Wohl des Kindes immer in generativen Beziehungen und sozialen Strukturen situiert ist. Um das Kindeswohl in ihrer biographischen, narrativen und normativen Bedeutung zu erfassen, hat die philosophische Studie Aspekte des guten Lebens, der Gerechtigkeit, der Beziehungen und der Zeitlichkeit entfaltet.
2. Empirisch
Sobald ein Geschwisterkind als Spender geeignet ist, dachten die meisten unserer Familien nicht mehr darüber nach, noch nach einem nicht-verwandten Spender zu suchen. Ein Spender aus der Familie wurde als Glück („Lotteriegewinn“) empfunden, der bedeutete, einen Rettungsversuch mit inner-familiären Ressourcen unternehmen zu können. Dies war für sie ein Weg, um in erlebter Hilflosigkeit und Bedrohung wieder handlungsfähig zu werden und Macht zurückzugewinnen.
Vor allem die Eltern sahen eine Blutstammzelltransplantation des passenden Geschwisterkindes als Familienpflicht an und erlebten es gar nicht so, dass sie eine „Entscheidung“ für die Stammzellentnahme ihres Kindes treffen mussten.
Eltern beschrieben ein Dilemma: Sie mussten sich gleichermaßen um ihre kranken und gesunden Kinder kümmern, was oft aus praktischen Gründen unmöglich war. Viele erlebten einen Mangel an Kontrolle über die Situation und große Unsicherheit. Sie litten darunter, ihrer Elternrolle nicht gerecht werden zu können: ihre Kinder beschützen und ihnen Sicherheit vermitteln. Sie fürchteten außerdem, das Spenderkind könnte sich „benutzt“ fühlen.
Spender berichteten von Verantwortung für die Gesundheit ihrer Geschwister und für den Erfolg der Blutstammzellenspende. Obwohl sowohl Eltern als auch Arztpersonen versicherten, die Kinder seien nicht für das Ergebnis der Behandlung verantwortlich, blieb im Fall des Misserfolgs das Gefühl der Verantwortung bestehen. Kinder litten noch Jahre später darunter.
Der Zeitpunkt der akuten Erkrankung wurde als Bruch und extremes krisenhaftes Ereignis beschrieben. Die Versuche der Anpassung an die Situation fielen deutlich unterschiedlich aus. Die meisten Familien wurden „zusammengeschweißt“. Zwei Familien beschrieben ihre Beziehung als „gebrochen“, jedoch nicht jene, bei denen der Patient verstorben war.
Die Verfügbarkeit von Körpermaterial formte die Familienbeziehungen. Der ‘Körper’ wurde zu einem konstitutiven Element der Beziehungen im familiären Diskurs; Familien entwickelten ihr eigenes “Narrativ” der Stammzelltransplantation.
3. Schlussfolgerungen
Das Erleben der Krankheit und der Transplantation beeinflussen die langfristige Entwicklung in den Familien. Eine Langzeitperspektive auf die Umstrukturierung der Verantwortlichkeiten in den Familienbeziehungen ist notwendig. Dies ist von Bedeutung auch für andere Formen der Lebendspende und für Stammzelltherapien mit gespendetem Körpermaterial.