Skip to main content

Sterbewünsche von palliativ versorgten Menschen in schwerer Krankheit

Untersuchungen zur hermeneutischen Bioethik

PhD Thesis von Kathrin Ohnsorge

Betreuerin: Prof. Dr. G.A.M. Widdershoven; Mitbetreuer: Prof. Dr. C. Rehmann-Sutter

Angenommen von der VU University Medical Centre Amsterdam, Dept. of Medical Humanities 2015

Die Praxis des Gesundheitswesens führt zu moralisch herausfordernden Situationen und beinhaltet komplexe ethische Entscheidungen, die die Bioethik zu beantworten versucht. In einer Zeit, in der wir nicht mehr davon ausgehen können, dass wir einfach höhere Prinzipien oder denselben epistemischen Grund für moralische Erfahrungen teilen, scheint der Rückgriff auf fundamentale Werte oder Prinzipien als Modell für moralische Urteile nicht mehr angemessen zu sein. Aber selbst, wenn es angesichts des moralischen Pluralismus unangemessen erscheint, sich auf ein ultimatives Fundament für die ethische Rechtfertigung zu stützen, müssen wir uns dennoch gegenseitig Rechenschaft ablegen. Wir haben immer noch die essenzielle ethische Aufgabe, uns gegenseitig Gründe für unsere jeweiligen moralischen Ansprüche und Verpflichtungen zu geben und von dort aus zu erarbeiten, wie wir am besten gemeinsam Lösungen für ethisch komplexe Fragen finden.

Wenn wir auf einen ultimativ fundamentalen und deduktiven Ansatz in der Ethik verzichten, bleibt nicht mehr (aber auch nicht weniger) übrig, als von der Pluralität unserer moralischen Auffassungen auszugehen und eine Validierung innerhalb der Beschreibungen unserer moralischen Praktiken vorzunehmen. Dann wird es wichtiger, unsere normativen Leitvorstellungen in Bezug auf eine moralische Frage explizit zu machen und sie in integrativen dialogischen Prozessen mit anderen zu vergleichen, als sich auf eine abstrakte ethische Rechtfertigung zu verlassen, die „Objektivität“ voraussetzt und eine singuläre Perspektive widerspiegelt.

Diese These basiert auf der Vorstellung, dass die hermeneutische Bioethik erkenntnistheoretische und anthropologische Prämissen beinhaltet, die die Ethik zu einer dialogischen Praxis machen und nicht zu einer Reihe von Theorien, die voneinander unabhängig angewendet werden können. Durch die Betonung des Vorrangs von praktischem vor theoretischem Wissen geht die Hermeneutik davon aus, dass unsere Vorstellungen von den Dingen in unserer nicht expliziten, praktischen Auseinandersetzung mit der Welt begründet sind (Heidegger, 1927). Durch die Dinge, die wir tun, erwerben wir elementares, erfahrungsbezogenes und auch moralisches Wissen. Dieses Wissen ist nicht primär allgemein, kognitiv oder bewusst, sondern partikular, praktisch und verkörpert. Durch die Teilnahme an sozialen Praktiken und die Teilhabe an einer bestimmten Lebenswelt eignen wir uns lokale Fähigkeiten der moralischen Wahrnehmung an, wir lernen, wie wir moralische Bedeutung zuschreiben, moralische Verpflichtungen eingehen, was andere von uns erwarten und was wir von anderen erwarten. Moralisches Wissen ist nicht a priori vorhanden, sondern entsteht in erster Linie durch das gemeinsame Leben in sozialen Praktiken. Durch unsere unterschiedlichen moralischen Erfahrungen, lokalen Traditionen und Gemeinschaften entwickeln wir ein moralisches Verständnis. Es bringt uns dazu, moralische Situationen, Verhaltensweisen und Entscheidungen auf bestimmte Weise zu interpretieren, und hilft, Lösungen für moralische Probleme zu finden.

Auf diesen erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagenhabe ich in der Einleitung vier Konsequenzen definiert, die für die Ausübung einer hermeneutischen Bioethik charakteristisch sind. Auf diese werde ich mich im Folgenden beziehen, um die zentrale Frage der Arbeit zu beantworten (siehe unten). Die vier Punkte sind: Erstens behauptet die hermeneutische Bioethik, dass praktische moralische Probleme nur dann signifikant angegangen werden können, wenn die ethische Bewertung dem lokalen praktischen ethischen Wissen der Beteiligten und den subjektiven Bedeutungen verpflichtet bleibt, die eine bestimmte moralische Praxis für sie hat. Aus hermeneutischer Sicht sollte die ethische Untersuchung daher mit einer gemeinsamen Anstrengung beginnen, um die subjektiven Bedeutungen und moralischen Verständnisse zu erforschen, welche die tatsächlich an einem moralischen Problem Beteiligten erfahren. Diese subjektiven moralischen Auffassungen spielen während des Prozesses der ethischen Bewertung eine kontinuierliche Rolle. Zweitens impliziert die Pluralität der moralischen Erfahrung, der epistemischen Hintergrundbedingungen und der moralischen Interpretationen die Notwendigkeit einer ethischen Bewertung durch einen dialogischen Prozess, in dem die Beteiligtenmoralische Interpretationen erklären und aushandeln. Folglich sieht die Hermeneutik die ethische Bewertung als einen gemeinsamen Prozess der gegenseitigen Rechenschaft über die eigenen moralischen Handlungen oder Positionen, indem die moralischen Standpunkte, die besonderen Argumente und die zugrunde liegenden Werte des anderen erforscht werden, und das besondere moralische Wissen und die ethischen Ansprüche im Dialog mit denen der anderen, einschließlich der allgemeineren ethischen Grundsätze, geprüft werden. Drittens sind die Dialogpartner*innen durch diesen dialektischen, Prozess des Wechselns zwischen den Perspektiven und durch die Öffnung für die moralischen Erfahrungen und Überzeugungen der anderen in der Lage, sich selbst zu erklären, ihre eigenen Standpunkte und die der anderen in Frage zu stellen, neue Erkenntnisse zu integrieren und sogar ihre Position zu revidieren. Dies führt zu moralischem Lernen und neuen moralischen Erkenntnissen, die es den Beteiligten ermöglichen, den ethisch klügsten Weg für das gemeinsame Vorgehen zu finden. Viertens ist die Rolle des oder der Bioethiker*in in einer hermeneutischen Perspektive nicht die einer spezialisierten Person, die über ethisch richtige Lösungen oder Begründungen berät, sondern die einer „gelehrten““, die den kritisch-dialogischen Prozess der ethischen Bewertung leitet und aufrechterhält.

(Aus dem Kapitel Schlussfolgerungen)

Buchpublikation: research.vu.nl/en/publications/investigations-in-hermeneutic-bioethics