Skip to main content

Wissenschaftsgeschichte und Historische Epistemologie

Cornelius Borck

Wer nach der Historizität von Wissen fragt, rechnet damit, dass es anders sein könnte. Das impliziert einen Möglichkeitssinn, der historische Bedingungen immer schon im Hinblick auf Alternativen, auf Abzweigungen und andere Zukünfte befragt. Nur auf den ersten Blick widmet sich Wissenschaftsgeschichte allein der Vergangenheit.

Offenbar gilt für Wissenschaftsgeschichte wie für andere Disziplinen, dass ihre Programme und Projekte Trends und Tendenzen durchlaufen. Insofern Wissenschaftsgeschichte mehr sein soll als eine Normalwissenschaft, muss sie solche Konjunkturen als konstitutiv für ihren epistemologischen Anspruch begreifen und zusammen mit der Genese fachlichen Wissens auch noch die Regeln für dessen Anerkennung aus den historischen Bedingungen freilegen - hierin liegt die epistemische wie politische Sprengkraft einer radikalen Historisierung wissenschaftlicher Praktiken und wissenschaftlichen Wissens.

In Zeiten einer umfassenden Evaluation von Forschung nach Impactfaktoren und einer Finalisierung von Wissenschaft im Hinblick auf ihre Vermarktungsfähigkeit muss ihre historisch-kritische Rekonstruktion auf andere Modelle von Nutzen setzen, will sie nicht der Verwechslung von Wissen mit Verwertbarkeit anheimfallen. Der Nutzen wissenschaftshistorischer Forschungsergebnisse bemisst sich vielmehr im Freilegen der Bedingungsgefüge gegenwärtiger Handlungsfelder und im Nachvollziehen konkreter Problemzusammenhänge. Auf die immer raschere Abfolge neuer sogenannter, Turns’ der Wissenschaftsforschung folgte am Ende des 20. Jahrhunderts eine radikale Historisierung so zentraler Konzepte wie Experiment oder Objektivität und eine Erweiterung der Wissenschaftsgeschichte um neue Akteursgruppen. Wissenschaft selbst geriet in Kritik, neben die Wissenschaftsgeschichte trat die Geschichte des Wissens und westliche Wissensordnungen müssen sich heute postkolonialer Kritik stellen.

Ein wesentliches Merkmal dieser dynamischen Entwicklung ist, dass Wissenschaftsgeschichte in immer wieder neuer Weise die Position des Beobachters im Feld selbst reflektiert. Ein solches Unterfangen ist nicht ohne historisches Vorbild. Wissenschaftsgeschichte kann sich dabei auf Ludwik Fleck berufen, der im multilingualen Lemberg der Zwischenkriegszeit die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache zum Gegenstand der Wissenschaftsreflektion machte, was auf dem Umweg über die USA zu Thomas Kuhns Paradigmenwechsel und von dort nach Europa zurückführte.

Wissenschaftsgeschichte scheint als akademisches, Nach-Denken‘ purer Luxus in der Ökonomie von Gesellschaft und Universität. Sie historisiert und relationiert die Wahrheiten der verschiedensten Fachwissenschaften und konkurriert allein mit der Wissenschaftsphiliosophie um die Strenge der Kritik. Aber allein philosophische Kritik und historische Kontextualisierungen versprechen davor zu schützen, von den nächsten wissenschaftlichen, technischen oder sozialen Innovationen überwältigt.

Außerdem ist nicht erst Wissenschaftsgeschichte ein nachträgliches Projekt, sondern schon Wissenschaft selbst als Ausdruck des Hinterfragens der vorbildlichen Wirklichkeit nichts Ursprüngliches. Schon deshalb darf Wissenschaftsgeschichte sich ihrer Sache nicht zu sicher sein, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Im besten Fall eignet ihr eine Kreativität aus profundem Misstrauen gegenüber allem Selbstverständlichen, wie dies schon Hans Blumenberg formuliert hatte: „Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.“

Cornelius Borck